LANDEBAHN Roman

 

Leseproben

 

Die langen hellen Tage verführten uns

Die langen hellen Tage verführten uns dazu, noch weniger zu schlafen als sonst. Um fünf standen wir auf, machten uns Kaffee und setzten uns raus auf die Terrasse. Der Himmel über München sah metallisch aus. Ihm fehlte die typische, meiner Wahlheimat nachgesagte, Heiterkeit. Die kleinen Wolken waren geometrisch exakt über die Fläche verteilt, ein bisschen wie das bayerische weißblaue Rautenmuster.
»Zirruswolken«, sagte ich.
»Sieht cool aus, Carl«, sagte Alice.
»Die Kondensstreifen bringen ein bisschen Pep ins Bild.«
»So als Signatur der Globalisierung?«, fragte ich.

Ein langes genüssliches Gähnen

Alice Antwort war ein langes, genüssliches Gähnen. Es war eindeutig zu früh und die Stimmung zu friedlich für eine Debatte über den Zustand der Welt. Sie schlürfte den Rest Milchkaffee aus ihrer XXL-Tasse und stellte sie zögernd auf den mintgrünen Metalltisch. »Ich muss los, auch wenn ich am liebsten zu Hause bleiben würde. Der Verkehr macht mich irgendwann fertig.« Sie stand auf und ging ins Bad.

Alice war Biologin

Alice war Biologin. Sie arbeitete am Frauenhofer-Institut und beschäftigte sich mit plastikfressenden Mikroorganismen. Häufig steckte sie im Stau und entwickelte dann immer abgefahrenere Ideen. Sie glaubte noch an die Rettung der Welt durch die guten Taten der Wissenschaft und auch an einen Home-Office-Arbeitsplatz.
Ich wäre am liebsten auch zu Hause geblieben.

Ein rätselhaftes Fieber

Schon seit Tagen hatte ich ein leichtes, rätselhaftes Fieber, aber keine Erkältungssymptome. Ich führte es auf eine Hepatitis-Impfung vor einigen Tagen zurück. Vielleicht war es auch eine psychosomatische Reaktion auf meine bevorstehende Geschäftsreise nach Indien. Die Aussicht auf einen zweiwöchigen Aufenthalt in diesem Land begeisterte mich nicht gerade.

Wovon träumte ich?

Ich mochte Indien nicht. Ich hatte darüber nur frustrierende Bilder im Kopf: chaotische Städte, Elend, Schmutz und viel zu viele Menschen. Indien stellte ich mir vor wie die wahrscheinlichste Version unserer näheren globalen Zukunft. Ich hatte ein ernstes Motivationsproblem und als Unternehmensberater war die Motivationsfrage für mich äußert wichtig. Ich versuchte, mich für Indien zu motivieren, aber es gelang mir einfach nicht. Doch wovon träumte ich?

*

Jede Stadt hatte ihren ganz eigenen Rythmus

Varanasi sah genauso aus, wie es im Reiseführer beschrieben war, tickte aber völlig anders als andere Städte, die ich kannte. Ich spürte das sofort. Jede Stadt hatte ihren ganz eigenen Rhythmus. Tokio tickte anders als Shanghai, London groovte anders als New York. Was über den Takt, Rhythmus und Sound von Städten in den Reisemagazinen berichtet wurde, war zwar schamlos übertrieben, aber Städte waren tatsächlich Staunen erregende Lebewesen, die es ziemlich heftig trieben. Sie schliefen nie, stopften viel zu viel schlechtes Zeug in sich hinein, verdauten es schlecht oder gar nicht, litten daher ständig an Verstopfungen, Blähungen und Kopfschmerzen und feierten trotzdem immer weiter.

Städte waren eigenständige Wesen

Städte waren eigenständige Wesen, genau wie Ameisen- oder Termitenkolonien. Stadtmenschen existierten ganz ähnlich wie solche Insekten. Allein waren sie orientierungslos, wurden lethargisch und starben schnell. Das eigentliche Wesen war der große Haufen. Die Stadt selbst war der Grund, warum ihre Bewohner sich alljährlich in Marathonläufe, Hafengeburtstage, Weihnachtsmärkte und Karnevalsveranstaltungen stürzten und an den restlichen Tagen versuchten, mit Müll- und Rettungswagen den Kollaps so lange wie möglich hinauszuzögern. Städte waren unvernünftig und deshalb eitel und stolz und hatten daher nur ein Ziel: so bleiben zu wollen wie sie waren, so alt wie nur möglich damit zu werden und dabei immer gut auszusehen. Nur tiefgreifend ändern wollten sie sich nicht. Lieber würden sie sich selbst aufgeben oder vernichten und schleifen lassen. Alle noch lebenden Städte stürzten von einer Katastrophe in die nächste und waren schon nach hundert Jahren nicht mehr wiederzuerkennen. Nur Varanasi nicht. Hier war seit Jahrtausenden jeder Tag wie der nächste und die uralte Stadt sah entsprechend vernachlässigt aus. Sie putzte sich nicht jeden Morgen mit riesigem Aufwand heraus, ließ ihren Müll auch schon mal ein paar Tage liegen und fing auch nicht gleich an zu heulen, wenn jemand sich erschöpft und lebensmüde in den Rinnstein legte.

In Shivas Stadt gab es wichtigere Dinge zu erledigen

In Shivas Stadt gab es wichtigere Dinge zu erledigen, als ständig sein albernes Leben in die Zukunft zu treiben. Im Gegenteil. Hier stand die Zeit still. Varanasi genoss die Pausen zwischen seinen trägen Pulsschlägen. Hier lief eine ganz andere Party als anderswo. Das spürte ich schon am Bahnhof und ich hatte sofort Lust, mich diesem Yin hinzugeben.

*

Erst dem Glöckchen gelang das wieder

Ich fiel unendlich lange und als das Fallen dann aufhörte, hatte ich die kristallklare Gewissheit, vollständig in mir selbst verschwunden zu sein. Ich trieb durch diese lange ruhige Pause meines Seins und fühlte mich ganz bei mir, wenn auch nicht dort, wo einem die gewöhnliche Realität ins Bewusstsein drang. Erst dem Glöckchen gelang das wieder und als ich die Augen öffnete, zerflossen die letzten Ausläufer meines Trips in den Spiegelungen des späten Sonnenlichts auf dem schwarzen Wasser des Flusses. Ich saß ziemlich weit oben auf einer Stufe am Ufer. Das Glöckchen bimmelte am Knöchel eines kleinen schwarzhaarigen Jungen, der mich neugierig betrachtete, während er zwei, drei Treppenstufen neben mir runtersprang, sich sofort umdrehte und wieder hochsprang.

Ich hatte Durst

Ich hatte Durst. Neben mir stand eine Wasserflasche, die ich noch im Zug gekauft hatte. Ich trank und der Junge mit dem Glöckchen verschwand an der Hand seiner Mutter, die ihn von mir wegzog. Uwe konnte nicht weit sein. Ich schaute mich nach ihm um. Weiter unten auf den Stufen saßen ein paar Jugendliche, eher noch Kinder, und teilten sich einen In-Ear-Kopfhörer. Alle wippten im Takt derer, die sie gerade im Ohr hatten. Auf der untersten Stufe, so kam es mir vor, spielten Katzen im Wasser. Ich neigte den Kopf zur Seite und seufzte genüsslich beim Überdehnen der Nackenmuskeln. Der um neunzig Grad gedrehte Ganges hing wie ein Faultier im dunkelgrünen Durcheinander der Umgebung. Das Faultier war im Begriff, eine ziemlich dicke schmutzige Orange zu verdrücken. Sein heller Bauch erwies sich als Sandbank. Die Orange musste überreif und schon reichlich angeschimmelt sein, denn so roch es hier, jedenfalls die Kopfnote.

Vor Ratten hatte ich noch nie Angst

Tiefgründiger roch es nach dem verwahrlosten Komposthaufen, den wir damals in der hintersten Ecke unseres Gartens in Berlin hatten und der nur deshalb keinen Nachbarn auf den Plan rief, weil alle vier Nachbarn im Kreuzungspunkt ihrer Gärten ähnliche Orte der Verwesung unterhielten und sich gegenseitig gelobten, sich sofort zu informieren, sobald man dort Ratten entdecken würde. Was aber wohl nie vorgekommen war. Ich wandte mich wieder den verspielten Katzen am Wasser zu. Katzen baden nicht gerne, fiel mir ein. Es waren Ratten, die sich dort wohl am Abfall zu schaffen machten. Komischerweise amüsierte mich der Anblick. Vor Ratten hatte ich noch nie Angst gehabt, wollte aber trotzdem nie eine eigene haben.

Uwe war nirgends zu sehen

Uwe war nirgends zu sehen, auch nicht, als ich ein paar Schritte hin und her marschierte, um meinen steifen Körper wieder in Schwung zu bringen und die nähere Umgebung zu inspizieren. Oben auf der Straße war reichlich Betrieb. Mit der heraufziehenden Dämmerung kamen immer mehr Menschen. Gelbe, grüne und weiße Kleidung überwog. Die meisten dieser Leute waren kleiner als ich und noch viel kleiner als Uwe. Er hätte sie in dem Gedränge überragt und wäre mir sofort aufgefallen. Ich kletterte auf ein Podest in der Nähe, auf dem ein Denkmal hätte stehen müssen, aber nicht vorhanden war, und nahm die Umgebung in Augenschein. Aber kein Uwe weit und breit.

Eine überaus schlanke Gestalt

Stattdessen fiel mir eine überaus schlanke Gestalt mit einem langen Stock auf, die neben einem Gebäude mit einer schönen Kuppel stand. Es war ein in weißes Tuch gekleideter Sadhu, der zu dem Haus zu gehören schien oder das Haus zu ihm. Ich hatte Lust, ihn zu fotografieren, aber mein Handy war in meinem Rucksack und der war wohl bei Uwe oder hatte ich ihn oben, wo ich vorhin saß, übersehen? Dort saßen jetzt einige Jugendliche und spielten mit ihren Handys. Ich ging zu ihnen und fragte nach meinem Backpack.

Mein Körper wollte für sie tabu sein

Eine junge, sehr hübsche und reizende Frau mit üppigen schwarzen Haaren und einem Körper in knappen Jeans und heller Blusenjacke, der nach Blicken verlangte, für die ich mich immer erst ein bisschen sammeln musste, bevor ich sie ihm schenken konnte, zog meinen Rucksack aus der Mitte ihres Freundeskreises und hielt ihn mir hin – mit einem übermütig klugen Gesicht, das vor Arroganz keine Angst zu haben schien. Ich blickte in das Gesicht dieser jungen Königin und fühlte mich wieder ein paar Augenblicke lang so körperlos wie vorhin, nur dieses Mal bewusst. Mein Körper traute sich noch längst nicht, sich mit ihr zu beschäftigen. Mein Körper wollte für sie tabu sein und sich vor ihren neugierigen Blicken verstecken, wusste aber nicht wohin. Sie musterte mich von oben bis unten und wieder zurück, ein paar Mal, wie ein Scanner.

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