ALTER

Über der alten Kiefer steht eine Gabelweihe in der Luft.

Ein Bilderbuchtag, Oktoberfest-Himmel, Schäfchen liegen verstreut im sonnigen Blau und träumen. Über der alten Kiefer steht eine Gabelweihe in der Luft. Sie nutzt die Luftströmung so gekonnt, dass sie auf der Stelle schwebt. Mit den großen Federn ganz außen an ihren Flügeln befragt sie die geheimen Winde. Sie ist hellwach. Die alte Kiefer hat einen schweren Astbruch überlebt. Viele Zapfen hängen an ihren Zweigen und wollen auf den fruchtbaren Boden fallen. Dieses Jahr hat sie stark ausgetrieben. Sie habe ich mir ausgesucht, vor drei oder vier Jahren, oder ist es noch länger her? Fünf oder sechs Jahre? Ich könnte darüber nachdenken und dann würde es mir sicher einfallen, aber wozu die Jahre nachzählen?

Ich fasse den Holm, fest, bis ich die Kraft der grob gezimmerten Leiter spüre, bis sie mich einlädt, die neun Stufen zur Plattform hinaufzuklettern. Schlanke trockene Gräser streicheln meine Waden. Ich habe das Gras stehen lassen. Nur den Pfad, der von hier zum Gartenhaus führt, wo ich im Sommer wohne, habe ich hin und wieder gemäht, mit der Sense, zisch, zisch, zisch, das hält in Form. Wie damals mit siebenundzwanzig, wiege ich wieder zweiundsiebzig Kilo und fühle mich so kräftig wie in den Achtzigern, aber längst nicht mehr so hitzig, begierig, ungeduldig, unbefriedigt. Es gibt ihn und ich fühle ihn, den Segen des Alters.

Von der jahrzehntelangen Büroarbeit habe ich mich zum Glück erholt.

Welchen nervlichen Strapazen ich mein ganzes Arbeitsleben lang ausgesetzt war, in diesen hochtechnisierten Umgebungen, wurde mir erst richtig klar, als ich hier draußen wieder körperlich zu arbeiten begann.

Die Luft ist, jetzt, am späten Nachmittag, noch warm und trocken. Ich laufe schon den ganzen Sommer über barfuß und oft war es so warm, dass ich nackt arbeiten konnte. Da hieß es aufpassen und voll bei der Sache sein. Das Mähen mit der Sense: mit ihr muss man fest entschlossen aus der Hüfte tanzen, zisch, zisch, zisch. Das Arbeiten mit dem rohen Holz, mit Werkzeugen, die sich mit mir anlegen, die beherrscht werden wollen, wie das tückische Schäleisen. Ich musste durchatmen und mich selbst beherrschen, nicht voreilig aufzugeben und Pausen zu verlangen, die mir die Lust am Werk verderben.

Es hat ein paar Jahre gedauert, bis das Baumhaus fertig war, denn über längere Zeiten habe ich nicht sehr viel daran getan. Einen Sommer lang hatte ich zwischen der alten Kiefer und den benachbarten beiden Apfelbäumen eine dieser dreieckigen Hängematten aufgespannt, und war stundenlang darin gelegen, selbstvergessen und wäre damit für den Rest meines Lebens fast schon zufrieden gewesen. Es ist aber ein ziemlich großer Rest, viel zu groß, um ihn in einer Hängematte verderben zu lassen.

Es sollte ein richtiges Baumhaus werden.

Ich versuchte Vorstellungen von polynesischen Hütten umzusetzen, rein spielerische Phantasien, keine ernstzunehmenden Attitüden und schon gar nicht derartigen Kitsch, den ich früher heuchelnd bewunderte, auf Gartenpartys bei gewissen Leuten, die sich wichtigtaten mit ihrem bornierten Geschmack: mit aufdringlichen Zengärten aus polierten weißen Kieselsteinen, dümmlich glotzenden Kopien der Venus von Milet und natürlich Michelangelos David; mit hilflos im Garten verteilten alten Bahnschwellen, eingebettet in recyceltes Glasgranulat, alles angestrahlt von teuren LED-Leuchten. Meine Komplimente für diese abgeschmackten Anschaffungen gingen mir leicht über die Lippen. Ein geschickter Lügner, der sich für einen guten Diplomaten hielt, das war ich, und ich gestehe mir längst ein, dass ich so einer sein wollte, denn es hat mir den Umgang mit diesen gewissen Leuten sehr erleichtert und natürlich auch ein paar Vorteile gebracht. Ich galt ja als jovial und flexibel.

Doch was ist letztlich der Preis für solche Spielchen? Meine wunderbare Begabung zur Intuition für das Wahre, Gute und Schöne, und auch deren Antagonisten, drohte mir zuletzt völlig abhandenzukommen. Sehr klar vernahm ich da die Mahnung meiner inneren Stimme, meines Gewissens, dass ich durch den sorglosen Missbrauch dieser besten meiner Gaben mir selbst bis zur Unkenntlichkeit fremd, also tatsächlich verrückt werden könnte.  Zu einer schlichten Ehrlichkeit zurückzukehren habe ich mir deshalb vorgenommen! Die letzte große Etappe will ich wieder wie ein staunend ins Leben verliebtes Kind durchschreiten, aber das ist eine sehr verzwickte Angelegenheit. Doch darum bin ich hier draußen, alleine mit mir, um diese innere Arbeit zu erledigen und den Kreis am Ende mit meinen besten Kräften zu schließen.

Ich bin gesund, kann noch mit meinem Leben experimentieren, ich lebe hier in einem Paradies. Da sollte es doch sehr einfach sein, meinem wahren Selbst in jedem Augenblick für diesen Segen zu danken. Doch wie leicht lasse ich mich immer noch ablenken und rege mich auf über die Zustände in der Welt! Es ist nämlich alles andere als einfach, von den jahrzehntlang eingefahrenen Denkautobahnen abzubiegen, auszusteigen und Frieden zu machen mit Grashalmen und schlafenden Schäfchen im Himmelblau, denn natürlich ist dies das echte Paradies, das so unantastbar ist für den Zugriff des nörgelnden Verstandes – der es nie wird erfassen können. Das Baumhaus wurde fertig. Aber wann ist ein Haus wirklich fertig? Oder ein Leben?

Ich verbringe, wann immer es mir möglich ist, meine Zeit hier oben.

Es ist kein Berg, aber eine ganz ordentliche Anhöhe, wo man dem Himmel und seinen Winden näher ist als unten im Tal. Im Winter lebe ich freilich auch unten im Dorf, und wäre dieser Herbst nicht so bezaubernd warm und sonnig, hätte mich dieser Indian Summer nicht mit seinen Farben berauscht und das Wetter eine nasskalte, regnerische Zeit beschert, wäre ich längst schon unten und meiner Frau gehorsam. Das versprochene Bücherregal würde ich ihr bauen, nach ihren Entwürfen, was auch sonst. Ich hätte jederzeit nach unten gehen und gewiss in ihren Armen liegen und unser Glück preisen können, aber könnte ich mein Glück noch preisen, wenn ich von einem Tag auf den anderen ohne sie leben müsste? Sie ist geselliger als ich, um sie brauche ich mir keine Sorgen machen, sagt sie. Also will ich wissen, ob ich es aushalte mit mir und dem Rest der Schöpfung, die Menschen mal außen vorgelassen. Diesen Sommer wollte ich hier oben alleine sein. Nicht mal telefonieren wollten wir, hatten wir abgemacht. Sie fand das auch gut und sei es nur aus Klugheit, und wir haben das durchgehalten. Letztes Jahr kam sie fast jedes Wochenende, so war damals unsere Abmachung, und dann hatten wir immer ganz köstliche Stunden. Müssen wir in unserem Alter noch Vertrauen üben? Natürlich hätte sie auch diesen Sommer jederzeit wieder hochkommen können, nach mir schauen, ob ich noch am Leben und bei Verstand bin oder Torheiten begehe. Was hätte ich gegen ihre Sehnsucht sagen können ohne sie zu verletzen.

Elli schaute alle zwei bis drei Wochen vorbei, ließ dann ganz geschickt ein paar Komplimente über meine Verfassung fallen und versuchte erst gar nicht, ihre Besuche rein zufällig aussehen zu lassen. Sie machte sich nichts draus, dass ich hier unter ihren Blicken nackt herumlief, sie schaute sogar ziemlich genau hin. Schließlich ist sie unsere Ärztin. Sie hat einen attraktiven Mann und zwei gut geratene erwachsene Söhne. Würde sie sich schämen mich anzuschauen, könnte ich ihr nicht vertrauen. Ich war ihr dankbar, dass sie kam, bat sie oft, ein bisschen länger zu bleiben. Sie sammelte dann Obst. Seit Wochen gibt es von den Bäumen hier reichlich Äpfel, Zwetschgen und Mirabellen. Oder sie pflückte Blumen. Die Malve blühte bis spät in den September, Mohn über den langen Sommer, auch Sonnenhut, Kamille und riesige Sonnenblumen. Sie war entzückt, blieb aber immer auf Distanz, gab sich wortkarg, wollte mich nicht nach Hause holen. Sie weiß genau, wie es ist, wenn man sich was vornimmt und durchhalten will.  Elli ist eine der wenigen Menschen, die ich in jeder Stimmung ertragen kann. Letzte Woche hat sie mir einen Brief von meiner Frau hochgebracht und ihn mir mit einem neugierigen Lächeln überreicht. Ich konnte es kaum erwarten ihn zu lesen und habe das natürlich gleich gemacht, als Elli endlich abzog, mit reichlich Champignons, die sie auf der Wiese gefunden und geschickt abgeschnitten hatte, ohne die Herbstzeitlose versehentlich mit einzupacken. Sie kennt sich ja aus.

Meine Frau hat meine Einladung angenommen.

Das macht mich natürlich sehr glücklich, doch was wäre eine solche Zusage am Telefon gewesen. Ein Küsschen, im Vergleich, denn es gibt nichts Intimeres, als einen mit der Hand geschriebenen Liebesbrief.

Die Gabelweihe spielt noch immer mit dem Wind, wie ein Drachen an einer Schnur steht sie dort oben und vielleicht gibt es eine unsichtbare Silberschnur zwischen ihr und mir, denn es zieht mich himmelwärts. Plötzlich sticht sie wie ein stark geworfener Speer ins Gras und macht Beute, vermute ich. Ich höre nichts. Hat sie lautlos ein junges Kaninchen geschlagen, von denen es hier zu viele gibt oder eine von den Feldratten? Nach ein paar Sekunden fliegt sie davon. Sie hat tatsächlich etwas in den Fängen.

Ich habe mir die Hosenbeine meiner Jeans bis zu den Knien hochgekrempelt und setze den Fuß auf die erste Stufe der Leiter. Ein Grashüpfer landet auf meinem Oberschenkel, pulsiert, als ob sein Herz schlägt und vielleicht tut es das auch, und wenn es kein extra Herz in dem kleinen zerbrechlichen Geschöpf gibt, dann ist dieses Insekt selbst ein Herz. Er springt von mir ab, hinab ins weiche Gras, als ich mich mit dem Bein nach oben stemme.

Ich habe alles sehr schön eingerichtet, mit so wenig wie nur möglich und es ist nicht übertrieben, eine Ästhetik der Bescheidenheit für mein Werk zu beanspruchen. Man kann hier drinnen nur höflich, dankbar und demütig sein. Hier oben fühle ich mich jung und frei. Ich habe ein paar Schnitzereien angebracht, die mir gut gelungen sind, wenn nicht, hätte ich sie ins Herdfeuer gesteckt. Sogar zwei phantastische Masken sind mir gelungen. Ich habe Eschenholz genommen, das sich schnell rötlich färbt, weil die Gerbstoffe darin an der frischen Luft oxidieren, was ich beabsichtigt hatte. Natürlich habe ich sie nicht angemalt.

Ich lege mich auf den Bauch und beobachte sie, wie sie den Hang hinauf kommt, mit ihren mir so vertrauten energischen Schritten näherkommt, wie sie immer größer wird, wie ich ihre Schritte bald schon höre, ihren Atem höre, der beinahe zu sprechen scheint. Mein Liebster… Sie sieht fröhlich aus und sehr neugierig. Ihr mit Henna dunkel gefärbtes Haar glänzt in der Abendsonne. Sie schaut sich lächelnd um, vermeidet geschickt, mich mit suchenden Blicken ausfindig zu machen. Aber sie hat mich längst hier oben erblickt, mit einem kurzen Schwenk ihres Kopfes, das entging mir natürlich nicht, auch wenn ich mich schnell verschämt weggeduckt habe, als er an mir vorbeistrich. Ich wollte keinesfalls dabei ertappt werden, wie ich sie beobachte, hätte sie doch denken können, dass ich sie ausspioniere, um für sie gewappnet zu sein, nach all den Wochen.

Sie trägt ihre marineblaue Leinentasche quer über die Schulter.

Die ist vollgepackt, aber nicht allzu schwer, ich sehe das an ihrem lockeren Gang. Vielleicht hat sie eine Decke eingesteckt oder ein Kissen. Sie lässt sich Zeit, wandelt durch den Garten, schaut sich versonnen alles seelenruhig an und dann, nach einer kleinen Ewigkeit, schaut sie hoch zu mir, lächelt mir ins Herz und ich lächle zurück. Mein Herz klopft bis an die Schädeldecke. Ob sie es hören kann, mit ihrem inneren Ohr? Mit ihren feinen weiblichen Sinnen, erspürt sie die Welt ganz anders als ich. Wir lieben uns seit über dreißig Jahren und noch immer verwechsle ich viel zu oft meine Welt mit der ihren. Sie legt den Kopf in den Nacken und betrachtet den Himmel. Was sieht sie? Etwas völlig anderes als ich?

Ich klettere die Leiter runter und gehe zu ihr, und als wären wir keine Minute getrennt gewesen, fühlen wir uns gleich wieder vertraut in unserer gemeinsamen Welt. Ihre Nasenflügel zucken. Schnuppert sie etwa an mir? Komm, wir gehen ins Gartenhaus. Ich habe Apfelkuchen gebacken, sage ich. Sehr schön, du hast das nicht vergessen, sagt sie neckisch.

Mit dem Kochen und Backen auf dem alte Holzherd, den ich im Gartenhaus vorfand, habe ich es zu einer gewissen Meisterschaft gebracht. Natürlich habe ich nicht vergessen, dass sie um die Uhrzeit Lust auf Kuchen hat! Sie öffnet ihre Tasche, zieht eine Kartusche mit Sahne hervor und grinst. Soll ich ihr nachjagen und mit ihr im hohen Gras verschwinden? Fast hätte ich mich hinreißen lassen, aber wieviel schöner wird es, wenn wir Apfelkuchen essen und frisch gebrühten Kaffee trinken, langsam zusammenrücken und später mit einer Flasche Burgunder ins Baumhaus klettern und den Himmel auskundschaften!

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